Das Kind muss an die frische Luft!

Freie Lüftung in Leipziger Kindertagesstätten

Der Gruppenraum einer Kindergartengruppe für 20 Kinder erhält nach derzeit gültigen Regeln der Stadt Leipzig für den Neubau Fenster, die mit einer Fläche von 7m² zu öffnen sind. Die Fenster sind in der vollen Größe ständig offen zu halten, während die Kinder den Raum benutzen. Dies gilt unabhängig von der Temperatur der Außenluft auch für die Heizperiode im Winter! Auch wenn diese Erfahrungen bislang nur aus Leipzig bekannt geworden sind, wird der grundsätzliche Konflikt zwischen den Belangen der ­Unfallkasse, des Arbeits- und Gesundheitsschutzes und der Raumhygiene aber vergleichbar sein, da die übergeordneten Regelungen bundesweit gelten. Nachfolgend wird dieser Konflikt näher beleuchtet.

Angesichts von Energiekrise und Klimawandel ist das Beharren auf dieser Planungsregel unverständlich. Dennoch bestehen die zuständigen Fachämter der Stadt Leipzig auf der Umsetzung dieser Regel in jedem Kita-Neubau. Die Nichteinhaltung der Berechnungsnachweise gilt in Leipzig als Planungsmangel und führt zu einem Haftungsschaden für den verantwortlich planenden Architekten.

Standards der Stadt Leipzig

Basis für die Beurteilung von Neubauprojekten bilden die „Vorgaben zu baulichen Standards für Objekte der Stadt Leipzig, Teil A: Kindertagesstätten (Stand 14.09.2017)“, die vom Amt für Gebäudemanagement der Stadt Leipzig erarbeitet und durch den Leipziger Stadtrat beschlossen wurden. Diese Standards umfassen zahlreiche Festlegungen u.a. zum Raumprogramm, Konstruktionen und Materialien, technische Ausstattung und Außenanlagen.

Unter dem Absatz 2 „Allgemeine bauliche Vorgaben, 2.3 Bauhygiene“ wird festgelegt, dass die Belüftung der Räume vorzugsweise als natürliche Lüftung in Form der einseitigen freien Fensterlüftung – also nicht mittels Lüftungsanlage – erfolgen soll. Ziel der Lüftung ist es, die CO2-Konzentration in Aufenthaltsräumen unter dem Maximalwert von 1000ppm CO2 zu gewährleisten. Damit gilt die Atemluft als hygienisch unbedenklich. Gerät der CO2-Gehalt der Atemluft über diesen Wert, leidet die Konzentrationsfähigkeit, Müdigkeit und Kopfschmerzen können die Folge sein.

Bezug Arbeitsstättenrichtlinie

Die notwendige Größe der Fenster wird auf der Grundlage der Arbeitsstättenrichtlinie er­mittelt („System gem. ASR 3.6, einseitige Lüftung“). Für Kindertagesstätten findet die Arbeitsstättenrichtlinie Anwendung, weil in einem Gruppenraum für 20 Kinder ein Erzieher bzw. eine Erzieherin arbeitet.

Die Arbeitsstättenrichtlinie unterscheidet bei der Fensterlüftung (freie Lüftung) zwischen der Stoßlüftung und der kontinuierlichen Lüftung. Die ASR sieht die beiden Berechnungsmethoden alternativ vor: Nachweis der erforderlichen Fenstergröße für die Stoßlüftung oder die kontinuierliche Lüftung. Für beide Lüftungsarten werden recht einfache Formeln angegeben, die komplizierte Berechnungen unnötig machen. Für die Stoßlüftung berechnet sich der notwendige Fensterquerschnitt über die Fläche des Raumes, im Falle der kontinuierlichen Lüftung über die Zahl der anwesenden Personen.

Allein aus Gründen der Energieeinsparung ist die Stoßlüftung zur eingeübten Praxis geworden. Die Fenster werden für 2-3 Minuten komplett geöffnet, die Luft im Raum ausgetauscht und die Fenster dann wieder geschlossen.

Die kontinuierliche Lüftung, etwa über ein dauerhaft gekipptes Fenster, wird im Zeichen der Energieeinsparung dagegen kritisch gesehen. Wertvolle Energie entweicht während der Heizperiode unkontrolliert in
die Außenluft. Ein kontinuierlich gekipptes Fenster erzeugt allerdings nur einen relativ geringen Öffnungsquerschnitt. Bei einem Fensterflügel von ca. 1,0 m x 1,5 m und einer Kippöffnung von ca. 15 cm im Bereich des Fenstersturzes sind dies lediglich ca. 0,375m².

Nach der Berechnungsformel der ASR reicht dieser Lüftungsquerschnitt zur kontinuierlichen Lüftung für eine Person im Raum aus (0,35m²/Person). In einem üblichen Büro für zwei Personen müssen also zum Nachweis der kontinuierlichen Lüftung zwei Fenster der angegebenen Größe ständig in Kippstellung geöffnet sein. Das erscheint noch realistisch, widerspricht allerdings schon bei dem Rechnungsansatz für zwei Personen dem bevorzugten Lüftungsverhalten zur Energieeinsparung.

Bei größeren Personenzahlen stößt der Nachweis der kontinuierlichen Lüftung an seine Grenzen, denn bereits bei fünf Personen im Raum reicht der ständig und vollständig geöffnete Querschnitt des beschriebenen Fensterflügels nicht mehr aus. Bei dieser Raumbelegung ist der Nachweis der kontinuierlichen Lüftung nur möglich, wenn 1 Flügel des beschriebenen Beispielfensters ständig und vollständig geöffnet ist und 1 weiterer Flügel gleicher Größe ständig in Kippstellung offensteht.

Da es nicht erstrebenswert ist, dass zwei Arbeitskräfte in Ihrem Büro bei ständig geöffneten Fenstern auch in den Wintermonaten ihren Arbeitstag verbringen, lässt die Arbeitsschutzrichtlinie wahlweise den Nachweis der Luftqualität über die Stoßlüftung zu und gewährleistet zugleich Luftqualität und Raumtemperatur.

Dagegen muss beim Neubau von Kindertagesstätten in Leipzig nach der ausschlaggebenden Regelung des Gesundheitsamts für alle Aufenthaltsräume der Kinder der Nachweis der ausreichenden Fensterlüftung sowohl über die Stoßlüftung als auch die kontinuierliche Lüftung erfolgen. Die Alternativregelung aus der Arbeitsstättenrichtlinie lässt das Gesundheitsamt nicht zu, obwohl die Kita-Standards direkt auf diese Regelung verweisen.

Der rechnerische Nachweis führt für die Gruppenräume der Kinder zu folgendem Ergebnis:

15 Krippenkinder: Stoßlüftung Fensterquerschnitt 4,725m² bzw. 5,25m² bei der kontinuierlichen Lüftung

20 Kindergartenkinder: Stoßlüftung Fensterquerschnitt 5,25m² bzw. 7,0m² bei der kontinuierlichen Lüftung

Da die Alternativregelung ausgeschlossen ist, ist der größere Fensterquerschnitt notwendig. Das entspricht im Beispiel des Krippengruppenraumes etwa der Größe eines Garagentores. Dieser Fensterquerschnitt muss nach den Vorgaben des Gesundheitsamts kontinuierlich, also ständig während der Betreuungszeiten der Kinder offengehalten werden, unabhängig von den Witterungsbedingungen – auch im Winter bei Minustemperaturen! Die Forderung des Gesundheitsamts auf Nachweis der kontinuierlichen Lüftung für alle Aufenthaltsräume der Kinder ist für einen Gruppenraum demnach erfüllt, wenn 15 Krippenkinder im Alter von 0-3 Jahren in ihrem Gruppenraum spielen, solange das „Garagentor“ geöffnet ist – bei Regen, Schnee und Wind.

Dieser für die Baugenehmigung verpflichtend nachzuweisende Lüftungsquerschnitt der Fenster kann in der Praxis der Kinderbetreuung nicht umgesetzt werden, zudem andere Vorgaben für den Betrieb von Kitas im Widerspruch zu den Anforderungen des Gesundheitsamts der Stadt Leipzig
stehen.

Unfallgefahr

Die Forderungen der Unfallkasse Sachsen lassen in den Raum hineinragende Fensterflügel nicht zu, da sich hier Verletzungsgefahren für die Kinder ergeben. Fensterflügel dürfen nur gegen die Wand aufschlagen, es sei denn, die geöffneten Flügel bleiben außerhalb des Bewegungsraums der Kinder (z.B. Oberlichter) oder werden nur dann geöffnet, wenn die Kinder nicht im Raum sind.

Bei ständig geöffneten Fensterquerschnitten der berechneten Größenordnung ist die Forderung nicht zu erfüllen. Die Größe der Öffnungsfläche und die damit verbundene Anzahl der notwendigen Öffnungsflügel ist nicht mit zwei Fensterflügeln herzustellen, die zu beiden Seiten gegen die Raumtrennwand aufschlagen. Es sind zusätzliche Öffnungsflügel notwendig, die dann in den Raum hinein geöffnet werden müssen und Unfallrisiken verursachen.

Klimaschutz und Energieeffizienz

Die Forderung des Energiestandards für Neubauten der öffentlichen Hand sind nicht vereinbar mit dem notwendigen Lüftungsnachweis. Die bauphysikalisch optimierte Konstruktion und Heiztechnik des Gebäudes entsprechend GEG kollidiert mit dem Energieverlust über ständig offen zu haltende Fensterquerschnitte zum Nachweis der kontinuierlichen Lüftung. Dieser Konflikt muss schließlich auch für belastbare, rechtssichere Baugenehmigungen gelöst sein.

Raumtemperatur

Die Raumtemperatur für Aufenthaltsräume in Kindertagesstätten muss 20°C betragen. Diese Raumtemperatur kann während der Heizperiode nicht gewährleistet werden, wenn die Fensterflügel zum Nachweis der kontinuierlichen Lüftung in der Anwesenheit der Kinder ständig und im vollen Querschnitt offen sein müssen. Die Raumtemperatur sinkt bei der entsprechend niedrigen ­Außentemperatur im Winter so stark ab, dass das Kindeswohl offensichtlich gefährdet
ist.

Fazit

Zur zeitgemäßen Lüftung in Kitas erscheint die Alternative einer mechanischen Be- und Entlüftung effizienter und (raum)klima­freundlicher. Die Lüftungsanlagen stellen den berechneten Luftaustausch sicher und minimieren mit der Wärmerückgewinnung den Energieverlust über die Außenluft. Der Lüftungsvorgang erfordert keinen Arbeitsaufwand für das Personal und verursacht keine Risiken für die Kinder. Neben den CO2-Grenz­werten können über Luftfilter weitere Parameter der Raumluftqualität kontrolliert und die Gesundheit geschützt werden.

Höhere Investitionskosten und der technische Wartungsaufwand sind nicht zu vermeiden, wenn der Anspruch an die Luftqualität ernst gemeint und dauerhaft gesichert sein soll.

Es bleibt die Hoffnung, dass eine fachliche Diskussion der fragwürdigen Vorgaben und der daraus resultierenden Ergebnisse schließlich zu Regelungen führt, die in der Betreuungspraxis anwendbar ist, Kosten in der Konstruktion und im Betrieb spart und schließlich den Kindern eine gesunde Umgebung sichert.

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