Kryoanlage für supraleitende Beschleunigermagnete
Herzstück für den Teilchenbeschleuniger des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung
Ein großer Schwertransport setzte sich am 30. November 2022 von Aschaffenburg nach Darmstadt in Bewegung. Sein Ziel war die internationale Beschleunigeranlage FAIR (Facility for Antiproton and Ion Research), die aktuell am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung entsteht. Geladen war die sogenannte „Cold Box“, ein 18 Meter langer und über 4,5 Meter hoher Stahltank mit einem Gewicht von 85 Tonnen. Die Cold Box ist das Herzstück der Kryogenik-Anlage, hergestellt und aufgebaut von Linde Engineering, die zur Kühlung und Verflüssigung von Helium für den FAIR-Beschleuniger eingesetzt wird. Die Kryogenik ist die erste technische Anlage, die – auf Rohbau und technische Gebäudeinstallation folgend – in die FAIR-Gebäude eingebracht wird.
Die riesige Kryoanlage soll zwei zentrale FAIR-Bausteine, den FAIR-Ringbeschleuniger SIS100 und auch den Super-Fragmentseparator (Super-FRS), mit flüssigem Helium versorgen. Im SIS100-Ringbeschleuniger werden in Zukunft Ionen – geladene Atome – mit bis zu 99% der Lichtgeschwindigkeit (fast 270.000 km/s) um die Kurven flitzen, um dann zur Erzeugung von Kernreaktionen auf Materialproben zu prallen. Der Super-FRS ist eine riesige Sortiermaschine für neu erzeugte, exotische Atomkerne, die uns Aufschluss über die Zustände in Sternen und anderen stellaren Ereignissen geben können. Mit diesen und weiteren Großgeräten möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an FAIR sich das Universum ins Labor holen.
Um die Teilchen auf ihren Bahnen zu lenken, sind in beiden Fällen starke Magnetfelder nötig, die nur durch das Phänomen der Supraleitung zu erreichen sind: Durch extreme Tiefsttemperaturen kann der elektrische Widerstand in einigen Materialen nahezu verschwinden, so dass hohe elektrische Ströme in den Elektromagneten fließen können. Die Magnete müssen dazu auf eine Temperatur von vier Kelvin (-269°C) abgekühlt werden. Um dies zu erreichen, liefert die Kryoanlage eine maximale Durchflussmenge von über 21.000 Litern flüssigen Heliums pro Stunde mit einer maximalen Kälteleistung von 14 Kilowatt bei vier Kelvin.
„Die FAIR-Kryoanlage ist eine der größtmöglichen Kälteanlagen, die noch aus einem Stück gebaut werden kann. Für noch höhere Kühllasten müssten mehrere Anlagen parallel genutzt werden“, erläutert Dr. Holger Kollmus, der als Leiter der Abteilung Cryogenics bei GSI/FAIR verantwortlich für den Aufbau der Anlage ist. „Eine Besonderheit der Anlage stellt die Möglichkeit dar, die Kühlleistung dynamisch zu verändern. Vergleichbare Anlagen, die hauptsächlich zur Herstellung von flüssigem Helium dienen, laufen permanent unter Volllast. Da jedoch die benötigte Kühlleistung für den Beschleuniger je nach Betriebszustand schwankt, soll auch die Anlage ihre Drücke und Massenflüsse entsprechend anpassen, um Energie und Kühlmittel zu sparen. Eine effiziente Reaktion auf wechselnde Lasten stellt hohe Anforderungen an Design und Konstruktion des Geräts.“
Linde Engineering ist als Auftragspartner verantwortlich für die Produktion und den Aufbau der Helium-Kühlanlage vor Ort. Zwei große Gebäude stehen der FAIR zur Verfügung, um die Anlagenkomponenten und nun auch die Cold Box aufzunehmen. Mehrere Großgeräte wie beispielsweise Kompressoren wurden bereits in den Wochen zuvor geliefert und in die Anlage integriert. Die Cold Box, das größte und zentrale Bauteil der Anlage, wurde von Linde Engineering im Werk Schalchen gefertigt. Von dort wurde das Gerät per Transporter nach Passau gefahren, mit dem Schiff nach Aschaffenburg gebracht und auf den finalen Schwertransport zu GSI/FAIR umgeladen. Die mechanische Fertigstellung der Gesamtanlage ist für Mitte 2023 geplant.
Leistungsstarke Verdichter
Bei diesem Projekt spielen GEA Grasso Schraubenverdichter für die Verdichtung von Heliumgas eine entscheidende Rolle. Der Auftrag an GEA umfasst Verdichter vom Typ XH, den größten Verdichtern von GEA, XE-Verdichter und XC-Verdichter, die alle zur LT-Serie von GEA gehören. Die GEA Verdichter sind die treibende Kraft des Prozesses zur Verflüssigung des Heliums und damit zur Kühlung der supraleitenden Magnete.
Das GEA-Team im GSI/FAIR-Projekt stand, gemeinsam mit den Partnern Enerproject S.A. und Linde Kryotechnik AG, beide aus der Schweiz, vor großen Herausforderungen – und meisterten sie. Um die Magnete zu kühlen, ist es nicht möglich, Ammoniak oder ein anderes Kältemittel zu verwenden, um die erforderliche Temperatur zu erreichen. Dies ist nur mit Helium möglich, dem „kältesten“ Element der Erde. Der Normalsiedepunkt von Helium liegt bei 4,2 K, was etwa -269 °C entspricht. Die gesamte Anlage umfasst 12,5 Tonnen Helium. Der Projektleiter und Key Account für Gasverdichter (DACH), Gerald Geißler, erklärt: „Helium ist ein teures und extrem seltenes chemisches Element, das nicht künstlich hergestellt werden kann. Daher müssen der Verlust und die Verunreinigung von Helium minimiert werden, um die Kosten für den Kunden zu senken. Aus diesem Grund waren der Einbau einer zweiten O-Ring-Dichtung für die Niederdruckverdichter, sowie eine Dichtheitsprüfung (Sniff-Test) mit Helium notwendig.
Für die Evaluierungsphase konnte GEA einen Experten für das Team gewinnen: Dr.-Ing. Ole Fredrich, Spezialist für Schraubenverdichter und mit kryotechnischem Hintergrund aufgrund seiner Forschungszeit an der TU Dresden. Er gab den verschiedenen Beteiligten in der Projektphase wertvolle technische Ratschläge und ist bestrebt, den Einsatz von GEA Schraubenverdichtern für Helium- und Wasserstoffanwendungen voranzutreiben.
Das FAIR-Projekt ist für GEA eine wichtige Referenz für weitere Zukunftsprojekte in der Anwendung von Helium in der Kälteerzeugung für so tiefe Temperaturen wie für den FAIR Ringbeschleuniger SIS100. Eine weitere Herausforderung war die Koordination dieses Langzeitprojekts in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, so dass die Verdichter termingerecht geliefert werden konnten. So musste zum Beispiel die Dichtheitsprüfung durch das Institut für Luft- und Kältetechnik Dresden nach der Fertigstellung und vor dem Versand organisiert werden. Die Inbetriebnahme der Helium-Verdichteranlage ist nach derzeitigem Planungsstand für 2024 und der erste Strahl für 2025 vorgesehen.
Quellen
GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung und GEA Group
Hintergrund-
informationen
Mega-Bauprojekt FAIR
Die Teilchenbeschleunigeranlage FAIR in Darmstadt ist weltweit eines der größten Bauvorhaben für die internationale Spitzenforschung. Auf rund 150.000 Quadratmetern entstehen unter anderem ein unterirdischer Beschleunigerringtunnel mit 1.100 Metern Länge, Labore und sonstige Betriebs- und Versorgungsbauwerke. Das Transfergebäude ist das komplexeste Gebäude der Anlage. Es ist der zentrale Knotenpunkt der Anlagenstrahlführung. Der 1.100 Meter lange Tunnel für den SIS100-Teilchenbeschleuniger wird ebenfalls bis zu 17 Meter unter der Erde liegen. Neben dem eigentlichen Beschleunigertunnel wird ein Versorgungstunnel liegen, in dem unter anderem Leitungen für Strom und flüssiges Helium, Platz für Netzgeräte und Möglichkeiten zur Kontrolle der Ionenstrahlqualität untergebracht sind.
Für das multinationale, hochkomplexe Mega-Bauprojekt wurde eine integrierte Bauablaufplanung entwickelt, in der Hoch-, Tief- und Ingenieurbau, Beschleunigerentwicklung und -bau sowie die wissenschaftlichen Experimente eng aufeinander abgestimmt sind. Im Sommer 2017 wurde mit dem Bau begonnen.
Zahlen und Fakten
zum Bau
2 Mio. m3 Erde werden bewegt – so viel wie für 5.000 Einfamilienhäuser
600.000 m3 Beton werden verbaut – so viel wie 8-mal das Fußballstadion Frankfurt
65.000 t Stahl werden eingesetzt – das entspricht neun Eiffeltürmen